«Die Energiestrategie muss mentale Sperren überwinden»

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«Die Energiestrategie muss mentale Sperren überwinden»

Am 21. Mai stimmen wir über das neue Energiegesetz ab. Martin Aeschlimann erläutert im Interview, warum die Energiestrategie 2050 das Potenzial hat, mit der notwendigen Energiewende einen entscheidenden Schritt vorwärts zu machen.

Martin, zunächst einmal: Worum geht es eigentlich bei der Energiestrategie 2050?

Die Energiestrategie 2050 steckt mit langfristigen Zielen die Eckwerte für die Energiezukunft der Schweiz ab. Ihr erstes Massnahmenpaket, über das wir im Mai abstimmen, bildet dafür eine wichtige Grundlage. Es enthält bewährte Elemente, die die Kontinuität in der Energiepolitik garantieren. Die Energiestrategie 2050 zielt im Wesentlichen auf einen zusätzlichen Ausbau erneuerbarer Energien, eine Stärkung der Energieeffizienz und einen Ausbau des Gebäudesanierungsprogramms ab.

Der Energieverbrauch soll ja bis 2035 um 43 Prozent sinken – wie soll das funktionieren?

Das sind keine naiven Zahlen von Phantasten. Das Reduktionsziel basiert auf umfangreichen technischen Modellberechnungen des Bundesamtes für Energie BFE, konkret auf dem Energieszenario «neue Energiepolitik». Das grösste Potenzial liegt dabei in der Mobilität und den Gebäuden.

«Im Gebäudepark der Schweiz liegt ein riesiges Energiepotenzial!»

Mit einem Anteil von rund 46 % am inländischen Energieverbrauch spielt der Gebäudepark eine Schlüsselrolle. Beim Verbrauch fossiler Energien beträgt der Anteil der Gebäude 49 % und beim Elektrizitätsverbrauch 37 %. Die Quote der energetischen Sanierungen am bestehenden Gebäudebestand liegt bei tiefen 0,9 %. Es gibt heute noch zu wenig Anreize, Gebäude energetisch zu sanieren. Wenn heute jemand an der Bahnschranke den Motor laufen lässt, fällt das auf. Von den schlecht gedämmten Häusern, die still und leise wertvolle Energie verschleudern, nimmt man noch keine Notiz. Im Gebäudepark der Schweiz liegt somit ein riesiges Energiesparpotenzial.

Die Gegner führen an, dass die erneuerbaren Energien auf absehbare Zeit nicht in der Lage seien, genügend sichere und günstige Energie zu liefern, um die Kernenergie zu ersetzen.

Die Gegenfrage sei erlaubt, wie sicher und günstig denn Kernenergie ist? Die Rückbau- und Endlagerkosten, aber auch die Risiken eines atomaren Unfalls werden von der Allgemeinheit getragen. Rechnen wir richtig, sind sowohl fossile Energie wie auch Atom bereits heute teurer als die Erneuerbaren. Die Energiestrategie sieht einen schrittweisen Ausstieg aus der Atomenergie vor. Die AKW gehen am Ende ihrer sicherheitstechnischen Betriebsdauer vom Netz. Das letzte AKW soll voraussichtlich nach 50 Betriebsjahren im Jahr 2034 abgeschaltet werden.

«Die Gegenfrage sei erlaubt,
wie sicher und günstig denn Kernenergie ist?»

Die Wasserkraft und die neuen erneuerbaren Energien sollen gefördert und ausgebaut werden. Das Szenario erscheint realistisch. Die Kurve des Wachstums der erneuerbaren Energien (Biomasse, Sonne, Wind) zeigt steil nach oben. Im 2015 lieferten die Erneuerbaren, ohne die Wasserkraft, erstmals rund 2.83 TWh, fast gleich viel wie das AKW Mühleberg (2.94 TWh).

Eine grosse Bedeutung wird jedoch der Speicherung zukommen, wenn die Bandenergie der AKW entfällt. Die Stromproduktion aus erneuerbaren Energien muss möglichst dort, wo sie anfällt, konsumiert werden. Die Speichertechnologien dazu sind heute verfügbar, bezahlbar und werden zusehends günstiger. Damit kann ein Haus oder eine Wohnung praktisch energieautark betrieben werden.

Wird nicht die wegfallende Atomenergie durch «schmutzige» Energie aus konventionellen Energieträgern oder sogar Atommeilern aus dem Ausland ersetzt?

Es gibt Alternativen. Die inländischen Stromproduzenten sind heute schon an vielen europä­ischen erneuerbaren Kraftwerken beteiligt. Zudem können die Kunden, auch die Grossverbraucher, entscheiden, welchen Strom sie beziehen wollen. Wenn private Konsumenten und Industrie sich für die einheimischen Erneuerbaren entscheiden, fördert dies deren Zubau. Für die Bewilligung, Finanzierung und Erstellung der nötigen Anlagen braucht es allerdings Zeit.

Längerfristig werden Appelle, Anreize und Förderung nicht genügen. Zu gering ist noch der gesellschaftliche Wert von Energie. Zu stark sind Gleichgültigkeit und Reichtum, um unseren verschwenderischen Umgang mit Energie zu ändern. Es braucht längerfristig eine Energie-Lenkungsabgabe, auch wenn diese momentan politisch nicht mehrheitsfähig ist. Ein Lenkungssystem würde den Verbrauch von Energien besteuern. Damit könnten Marktverzerrungen und die heute fehlende Kostenwahrheit korrigiert werden.

Die Gegner behaupten, dass mit der Energiestrategie 2050 auf die Familien im Land massive Mehrkosten zukommen – bis zu 2400 CHF und mehr pro Jahr für eine vierköpfige Familie.

Es stimmt, dass zusätzliche Kosten auf uns zukommen. Aber diese sind verkraftbar und können durch mehr Energieeffizienz problemlos kompensiert werden. Die Förderung der einheimischen erneuerbaren Energien und der Stromeffizienz wird über den Netzzuschlag finanziert, den Haushalte und Unternehmen bezahlen. Dieser soll mit dem Energiegesetz von heute 1.5 Rp./kWh auf 2.3 Rp./kWh erhöht werden. Ein Haushalt mit vier Personen und durchschnittlichem Stromverbrauch wird so rund 40 Franken pro Jahr mehr bezahlen müssen als heute.

«Es stimmt, dass zusätzliche Kosten auf uns zukommen. Aber diese sind verkraftbar und können durch mehr Energieeffizienz problemlos kompensiert werden.»

Die volkswirtschaftlichen Kosten für Schäden bei einem «Weiter wie bisher» sind um ein Vielfaches höher und würden nachfolgende Generationen enorm belasten. Wider besseren Wissens rechnet die SVP bei ihren Horrorzahlen die Kosten des zweiten Massnahmenpakets mit ein. Das ist hochgradig unseriös. Erstens ist es sehr unwahrscheinlich, dass die dort aufgeführten Massnahmen überhaupt jemals so beschlossen werden. Bis es soweit ist, haben wir vermutlich ganz andere technologische Möglichkeiten. Zweitens stimmen wir darüber aktuell gar nicht ab.

Und die Konkurrenzfähigkeit des Gewerbes und der Exportwirtschaft der Schweiz? Wird sie nicht derart leiden, dass Arbeitsplätze und der Wohlstand der Schweiz zerstört werden?

Gesamtwirtschaftlich gesehen passiert genau das Gegenteil: Wenn nur ein Teil der rund 15 Milliarden, die jährlich für fossile Brennstoffe bezahlt werden, in erneuerbare Energien investiert wird, schafft dies Arbeitsplätze in der Schweiz. Diese Investitionen würden gleichzeitig dazu beitragen, die geopolitischen Risiken und Nebenwirkungen zu verringern.

Landschaftsschützer befürchten, dass der massive Ausbau der erneuerbaren Energien auf Kosten des Natur- und Landschaftsschutzes gehen wird. Verschandeln dann Windräder die Schweiz und zerstören Staudämme unsere Berggebiete?

Natürlich kann es zu Zielkonflikten kommen. Allerdings sind die Standorte mit guten Windbedingungen in der Schweiz limitiert. Es wird nicht die ganze Schweiz mit Windrädern überstellt und nicht jeder Alpsee wird zum Speichersee. Ich denke aber, dass zugunsten der Energiewende, die gesellschaftliche Akzeptanz für neue Produktionsanlagen zunehmen wird. Die Unversehrtheit der Landschaft ist ein hohes Gut, die Versorgung mit erneuerbaren Energien ist aber auch ein wichtiges Ziel.

Welche Alternative bieten die Gegner der Energiestrategie an?

Ich sehe keine. Jene Kreise, die die politische Unabhängigkeit und den Sonderfall Schweiz beschwören, bekämpfen nun die Energiestrategie. Dabei wird die Auslandsabhängigkeit bei der Energieversorgung durch die Energiestrategie insgesamt kleiner. Die rückwärtsgewandte Optik der Gegner verkennt die technologischen Entwicklungen und Innovationen.

«Die rückwärtsgewandte Optik der Gegner verkennt die technologischen Entwicklungen und Innovationen.»

Die Energiestrategie hat ja im parlamentarischen Prozess ziemlich Federn lassen müssen. Gemessen an den energiepolitischen Zielen der EVP genügt die Strategie nicht – zu viele Forderungen wurden gekippt oder verwaschen. Aus welchen Gründen empfiehlst du, dennoch ein Ja einzulegen?

Die Energiestrategie 2050 hat das Potenzial, mit der Energiewende einen entscheidenden Schritt vorwärts zu machen. Aus meiner Sicht hat die Energiewende viel mit der Überwindung von mentalen Sperren zu tun. Die Widerstände zeigen, dass die erneuerbaren Energien immer noch an den Bereitstellungsmethoden der konventionellen Energiewirtschaft gemessen werden. Ein System, das darauf konditioniert wurde, ständig mehr Energie für wachsende Bedürfnisse zur Verfügung zu stellen. Es ist an der Zeit, bisherige Denk- und Verhaltensweisen aufzugeben, um einem neuen verantwortungsvollen Umgang mit Energie Raum zu geben. Oder wie Guiseppe Tomasi so treffend sagte: «Wenn wir wollen, dass alles so bleibt wie es ist, müssen wir zulassen, dass sich alles verändert.»