«Der Zweck heiligt die Mittel. Menschen dürfen instrumentalisiert werden.»

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«Der Zweck heiligt die Mittel. Menschen dürfen instrumentalisiert werden.»

«Wenn man Menschen Organe ohne deren ausdrückliche Zustimmung entnimmt, besteht die Gefahr der Organentnahme wider Willen. Eine Spende muss jedoch explizit und freiwillig erfolgen.» Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle im Interview zum Transplantationsgesetz.

Ist es ethisch korrekt, dass der Staat das Schweigen seiner Bürgerinnen und Bürger zur Organentnahme nach ihrem Tod stillschweigend als Zustimmung deutet und damit Zugriff auf ihren Körper hat? Die promovierte Theologin und Ethikerin Ruth Baumann-Hölze warnt vor einem Präzedenzfall für weitere staatliche Übergriffe. Sie sieht das wohl wichtigste Grundrecht der Menschen auf ihre Integrität gefährdet. Mit ihrem Widerstand gegen die Widerspruchslösung lehnt die Besitzerin eines Spenderausweises dabei nicht die Transplantationsmedizin an sich ab. Aber jeder und jede soll selbstbestimmt entscheiden können, ob er Organe freigeben will oder nicht. Denn das Sterben ist, so Baumann-Hölzle, ein Prozess, der mit dem Hirntod nicht abgeschlossen ist.

 

Frau Baumann-Hölzle, Sie sehen in der Einführung der erweiterten Widerspruchslösung einen Paradigmenwechsel auch im Rechtsverständnis der Schweiz. Was genau würde sich denn so fundamental verändern mit dieser Gesetzesänderung? Sehen Sie weiter reichende Konsequenzen?
Bis anhin können wir davon ausgehen, dass der Staat unsere physische, psychische und soziale Integrität selbstverständlich schützt. Neu muss ich dem Staat gegenüber meine Integrität einfordern und aktiv verteidigen. Damit wird ein Präzedenzfall für weitere staatliche Übergriffe gesetzt wie zum Beispiel bei der Datenhoheit. Im Namen des gesamtgesellschaftlichen Gemeinwohls kann der Staat von nun an Integritätsverletzungen vornehmen. Wie will der Staat sicherstellen, dass wirklich alle Menschen die Information verstanden haben, dass sie sich aktiv melden müssen, wenn sie keine Organentnahme wollen, dass sie entscheiden können und müssen und so weiter. Im Zweifel haben nicht mehr die Integrität und die Selbstbestimmung den Vorrang, sondern der Zweck heiligt die Mittel. Menschen dürfen instrumentalisiert werden.

Ist es aus ethischer Sicht korrekt, den fehlenden Widerspruch eines Menschen als dessen stillschweigende Zustimmung zu deuten? Immerhin handelt es sich ja um einen guten Zweck und eine grosse
Mehrheit der Bevölkerung signalisiert in Umfragen doch ihre Bereitschaft zur Organspende?

Schweigen kann viele Gründe haben und bedeutet nicht einfach Zustimmung. Interessant ist, dass zwar in Umfragen 80 Prozent der Bevölkerung für eine Organspende sind, aber nur 16 Prozent dann aktiv einen Spenderausweis besitzen.

Unsere Verfassung verpflichtet den Staat, die körperliche und seelische Unversehrtheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Das bleibt doch auch weiterhin gewährleistet oder nicht?

Nein gerade nicht. Denn schon bevor eine Person hirntot ist, wird sie auf der Intensivstation – nachdem man entschieden hat, die Maschinen abzustellen – für eine Organentnahme vorbereitet, wenn sie nicht vorher dagegen widersprochen hat. Nach dem Abstellen der Intensivmassnahmen und nur fünf Minuten nachdem man den Hirntod festgestellt hat, wird mit der Reanimation begonnen, um die Organe frisch zu halten. Damit die Person ganz sicher nicht wieder zum Leben erwacht, werden die Halsschlagadern unterbrochen. Das sind tiefgreifende Eingriffe, die eine explizite Zustimmung verlangen.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang auch von der Gefahr der Instrumentalisierung des Menschen. Was genau befürchten Sie?
Wenn Organe Menschen ohne explizite Zustimmung entnommen werden, nimmt man in Kauf, dass man Menschen Organen gegen ihren Willen entnimmt. Das ist eine Organentnahme wider Willen. Eine Spende hingegen muss explizit und freiwillig erfolgen.

Organspenden retten doch Leben. Müsste die Gesetzesänderung bei Ihnen als Theologin und Ethikerin nicht offene Scheunentore einrennen? Es ist doch etwas ethisch Wertvolles, möglichst viele Leben retten zu wollen?
Die Ablehnung der Widerspruchsregelung ist keine Ablehnung der Transplanationsmedizin. Ich selber habe einen Ausweis für die Entnahme beim primären Hirntod. Seit dem zweiten Weltkrieg haben wir festgelegt, dass die Integrität eines Menschen nur im Fall einer massiven Fremdgefährdung verletzt werden darf und auch dann muss dies noch verhältnismässig sein. Dieses Abwehrrecht ist wohl das wichtigste Grundrecht überhaupt. Zudem ist es nicht einmal klar, ob die Widerspruchsregelung zu mehr Organen führt, sie schwächt aber mit Sicherheit die Autonomie der Patienten.

In meinem Umfeld höre ich häufig: Wenn ich tot bin, bin ich tot. Es ist doch gut, wenn meine Organe dann noch anderen Leben ermöglichen können. Das Sterben endet doch mit dem erklärten Hirntod und ich kann den Körper freigeben?
Gegen diese Argumentation hat ja auch niemand etwas einzuwenden. Nur soll jeder und jede selbstbestimmt darüber entscheiden können, ob er oder sie ihre Organe freigeben möchte oder nicht. Das Sterben ist ein Prozess. Mit dem «Hirntod» ist der Sterbeprozess unumkehrbar geworden. Aber er ist noch nicht abgeschlossen. Deshalb werden die Hirntoten bei einer Organentnahme auch in eine Narkose versetzt, weil sie bei der Entnahme Reaktionen zeigen.

Bei der neuen erweiterten Widerspruchslösung können die Angehörigen die Organentnahme verweigern, wenn sie glaubhaft machen können, dass dies im Sinne des Verstorbenen ist. Können die Hinterbliebenen das in den wenigen Minuten nach der Feststellung des Todes bis zur Entnahme leisten? Welche Rolle kommt damit den Angehörigen zu?
Die Angehörigen befinden sich in einer ausserordentlichen Stresssituation und geraten noch mehr unter Druck als heute schon, indem sie eine Ablehnung beweisen müssen. Denn im Zweifel gilt nicht mehr für die Selbstbestimmung, sondern für die Instrumentalisierung.

Die nationale Ethikkommission hatte das sogenannte Erklärungsmodell empfohlen. Wäre diese Lösung aus ethischer Sicht vorzuziehen?
Ja, auf jeden Fall. Damit muss jede urteilsfähige Person zur Organentnahme Stellung beziehen. Organentnahmen wider Willen gäbe es dann nicht mehr.

 

Ruth Baumann-Hölzle, 64

ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Sie ist Geschäftsführerin der Stiftung Dialog Ethik und Leiterin des Interdisziplinären Institutes für Ethik im Gesundheitswesen der Stiftung.


Das Erklärungsmodell

Die nationale Ethikkommission hatte die sogenannte Erklärungsregel empfohlen. Diese sieht vor, dass die Menschen in der Schweiz regelmässig (zum Beispiel bei der Verlängerung der ID oder bei Arztkonsultationen etc.) dazu aufgefordert werden, sich mit der Frage der persönlichen Organspende auseinanderzusetzen und ihren Willen dann auch in einem Spendenregister zu erklären. Diese Erklärungsregelung würde dem Selbstbestimmungsrecht am besten Rechnung tragen, da unklare Fälle seltener wären. Das wiederum würde die Angehörigen entlasten.

 

Was spricht dagegen?

  • Das Recht auf körperliche Unversehrtheit wird nicht mehr garantiert. Die Bundesverfassung garantiert jedem Menschen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung. Dieser Schutz muss insbesondere in höchst verletzlichen Situationen wie dem Sterbeprozess gelten. Mit der Widerspruchsregelung muss der Bürger sein bisher staatlich garantiertes Recht auf körperliche Unversehrtheit aktiv einfordern.
  • Schweigen bedeutet nicht Zustimmung. Zu jedem medizinischen Eingriff, selbst für die Blutentnahme, braucht es unser ausdrückliches Einverständnis. Dass es ausgerechnet für den grössten Eingriff in den Körper, die Organentnahme, keine Zustimmung braucht, ist falsch.
  • Der Druck auf die Angehörigen wird sehr gross. Sie dürfen nur Widerspruch einlegen, wenn sie glaubhaft machen können, dass dies im Interesse des Verstorbenen ist − und dies unter Schock und in Trauer innerhalb weniger Minuten.

 

Interview und Text: Dirk Meisel, Leiter Kommunikation EVP CH
Erschienen in der April-Ausgabe des EVP-Mitgliedermagazins AKZENTE

 

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